Die Technologien zu erforschen und Trends zu entdecken, die die Zukunft prägen werden – das ist die Mission von Florian Neukart, Direktor Advanced Technologies and IT Innovation Volkswagen Group of America.
An diesem Morgen sind die Straßen im Zentrum von San Francisco voller Menschen, die Tagungsausweise an blauen Bändern um den Hals tragen. Ein führendes Unternehmen für Online-Marketing-Software veranstaltet unweit der bekannten Market Street, die mitten durch den Einkaufs- und Finanzdistrikt verläuft, seine alljährliche Tech-Konferenz. Tausende Besucher sind auf dem Weg dorthin. Neben Branchengrößen wie Apples CEO Tim Cook treten auch der frühere US-Präsident Barack Obama und Schauspielerin Emilia Clarke („Game of Thrones“) auf. Selbst für die Verhältnisse von San Francisco dürfte die Quote der Digitalexperten pro Quadratmeter an diesem Tag einen ungewöhnlich hohen Wert erreichen.
Trends, die die Zukunft prägen werden
Nur knapp zehn Gehminuten entfernt steht Florian Neukart an seinem Stehpult und klappt seinen Laptop auf. „Wir sind hier im Silicon Valley, wo die Technologie boomt“, sagt Neukart. Der 37-jährige Österreicher ist Computerwissenschaftler, ein international renommierter Experte für künstliche Intelligenz und Quantencomputer. Als Direktor leitet er in San Francisco das Team Volkswagen Group Advanced Technologies. Neukart und seine Kollegen haben einen ambitionierten Auftrag: die Technologien und Trends zu entdecken, die die Zukunft prägen werden. „Wir haben das Ziel, etwas besser zu machen für den Konzern. Besser für unsere Kunden“, sagt Neukart.
Für dieses Vorhaben ist San Francisco sicherlich ein guter Ort. Das eigentliche Silicon Valley befindet sich zwar etwa 50 Kilometer weiter südlich und besteht aus der Aneinanderreihung von Städten wie Mountain View, Palo Alto, Menlo Park, Cupertino und San Jose. Apple, Facebook, der Google-Mutterkonzern Alphabet und Tausende Start-ups haben hier ihre Firmensitze. Aber San Francisco, die Heimat von Twitter, LinkedIn und Airbnb, wird seit Jahren bei Experten aus der hiesigen Tech-Szene immer beliebter. Das sind genau die Menschen, mit denen Neukart und sein Team den Austausch suchen. Deswegen hat Volkswagen hier bereits im Jahr 2016 ein Büro für Advanced Technologies eröffnet.
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Volkswagen Technologie-Entwicklung in den USA
Das Advanced Technologies Team des Volkswagen Konzern ist über mehrere Standorte verteilt. Neben San Francisco sind dies in den USA unter anderem Belmont, Auburn Hills und Herndon. Die konzernweite Zusammenarbeit findet über Ländergrenzen hinweg statt, etwa mit dem Volkswagen Data:Lab in München. Insgesamt hat das Team rund 110 Mitarbeiter.
Das Innovation and Engineering Center California (IECC) der Volkswagen Group of America in Belmont (Kalifornien) beschäftigt rund 300 Mitarbeiter, die für alle Marken des Volkswagen Konzern neue Technologien und deren Nutzung im Unternehmen erforschen. Bereits 1998 gründete Volkswagen im kalifornischen Sunnyvale das Electronics Research Laboratory (ERL), das im Sommer 2019 im IECC aufgegangen ist.
Regelmäßiger Kontakt mit der Tech-Szene
„Mittlerweile sind wir schon etabliert“, sagt Neukart. Wichtig sei hier in San Francisco die Meetup-Szene, das zwanglose Zusammentreffen nach Feierabend, wo alle erzählen, woran sie arbeiten, wodurch sich eventuell gemeinsame Projekte ergeben. Neukarts Teams ist stetig gewachsen und gerade erst in ein neues Büro eingezogen. An diesem Morgen ist etwa die Hälfte der rund ein Dutzend hier ansässigen Mitarbeiter da, die anderen sind bei Terminen, auf Dienstreisen oder Konferenzen. Für das Vernetzen ist es zweitrangig, im Büro zu sitzen.
„Wir sind noch dabei, hier alles wieder auszupacken“, erklärt Neukart beim Rundgang durch die Büroetage im Herzen der Stadt. Die Räume strahlen den Charme eines typischen Start-ups aus: Mitarbeiter sitzen in einem der kleinen Meeting-Räume zusammen vor einem vollgekritzelten Whiteboard. Um die Bildschirm-Arbeitsplätze in der Mitte des offenen Raumes sind Sofa-Sitzgruppen angeordnet. Auf einem Schreibtisch steht ein buntes Einhorn, auf einem anderen liegt eine selbstkonstruierte Spielzeug-Pistole. Jedem Nerd würde wohl das Herz aufgehen.




Strategischer Nutzen für den Konzern
So unkonventionell die Atmosphäre hier sein mag, so handfest ist die strategische Zielsetzung der Arbeit von Florian Neukart und seinem Team. Technologien, die heute noch nach Science-Fiction klingen mögen, können morgen, richtig eingesetzt, einem Automobilkonzern wie Volkswagen einen entscheidenden Vorsprung bringen. Das gilt umso mehr in einer Welt, in der Autos zunehmend zu vollvernetzten Geräten werden und Mobilität zu einem digitalen Service. Ein gutes Beispiel sind Quantencomputer. Lange wurde über die Potenziale dieser Computer, die gänzlich anders funktionieren als binäre Rechner, nur theoretisch diskutiert. Als im Herbst Google verkündete, es sei mit einem Quantencomputer gelungen, ein mathematisches Problem binnen weniger Minuten zu lösen, für das konventionelle Rechner Tausende von Jahren bräuchten, horchten Computerwissenschaftler überall auf der Welt auf. „Das hat viel Aufregung und auch Begeisterung ausgelöst in der Community,“, erklärt Andrea Skolik, Mitarbeiterin von Neukart. Zu Google gebe es bereits seit 2017 sehr enge Kontakte beim Thema Quantumcomputing.
Welchen konkreten Nutzen Quantencomputer haben können? Daran forschen Florian Neukart und sein Team schon seit Jahren. Bei einem weltweit einmaligen Pilotprojekt konnten sie es im November in Lissabon demonstrieren: Während der Tech-Konferenz WebSummit rüstete Volkswagen MAN-Busse der kommunalen Verkehrsgesellschaft CARRIS mit einem selbst entwickelten Verkehrssteuerungs-System aus.
Dieses System nutzt einen Quantencomputer von D-Wave, einem weiteren Technologiepartner von Volkswagen, und berechnete nahezu in Echtzeit die individuell schnellste Route für jeden der teilnehmenden neun Busse und die optimale Verteilung der Flotte. Die Busse konnten so Staus frühzeitig erkennen und umfahren. Auf diese Weise konnte die Fahrzeit der Passagiere selbst in Stoßzeiten reduziert und der Verkehrsfluss in der Stadt verbessert werden – ein Projekt, das auf jede beliebige Kommune und auf beliebig große Fahrzeugflotten übertragen werden kann.
Volkswagen sieht sich hier in unmittelbarer Reichweite einer kommerziellen Anwendbarkeit. „Das Pilotprojekt zum Routing von Bussen in Lissabon ist die erste Anwendung weltweit, die einen Quanten-Algorithmus produktiv nutzt – end to end, angefangen bei der Analyse und Prognose von Verkehrsverhalten, Ermittlung von Routen auf dem Quantencomputer, und schließlich der Kommunikation dieser Routen zurück an die Busfahrer via App“, sagt Florian Neukart.
Und das ist nur eine von vielen denkbaren Anwendungen. „Wo Quantencomputer auch wirklich glänzen können, ist beim Simulieren von Materialien, einzelnen Molekülen“, erklärt Andrea Skolik. Dies könne bei der Entwicklung neuer Werkstoffe entscheidende Fortschritte ermöglichen. In der Batterieforschung arbeitet Volkswagen mit Hilfe von Quantencomputern an der Simulation chemischer Vorgänge auf molekularer Ebene. Das könnte den Weg ebnen zu noch leistungsfähigeren Batterien – ein entscheidender Baustein für die nächsten Generationen von Elektroautos.
Künstliche Intelligenz erkennt Fußgänger
Eine weitere vielversprechende Technologie ist künstliche Intelligenz oder genauer: maschinelles Lernen. Auch daran arbeiten die Volkswagen-Experten in San Francisco. Hierbei werden Algorithmen so lange mit Daten gefüttert, bis sie selbstständig Muster erkennen und komplexe Aufgaben erfüllen können. Neukarts Mitarbeiter David Von Dollen führt es an seinem Bildschirm vor. Dort ist zu sehen, wie das System dynamisch lernt, zwischen zwei Klassen von Daten zu unterscheiden, roten und blauen.
Konkret kann das bedeuten: Der künstlichen Intelligenz werden zum Beispiel so lange Bilder von Katzen von Autos gezeigt, bis das System den Unterschied selbstständig erkennt. Was zunächst banal klingt, eröffnet weitreichende Möglichkeiten. „Dafür gibt es zahlreiche Anwendungen“, sagt Von Dollen an seinem Rechner. „So kann das System zum Beispiel in einem autonom fahrenden Auto auf der Grundlage der Bilder aus einer Videokamera schlussfolgern, ob da ein Fußgänger oder etwas anderes zu sehen ist.“ Derart leistungsfähige KIs, wie sie etwa auch im Münchner Data:Lab von Volkswagen entwickelt werden, sind der Schlüssel für sicher autonom fahrende Autos – von Katzenbildern führt der Weg zur Mobilität der Zukunft.
Virtual Reality im Design
Bereits konkret bei Volkswagen im Einsatz ist die Technologie, an der Frantisek Zapletal arbeitet. Der Tscheche, der in Deutschland studiert hat und mit seiner Familie nach Kalifornien gezogen ist, arbeitet für das Volkswagen Virtual Engineering Labund entwickelt Virtual-Reality-Anwendungen für das Fahrzeugdesign. Zum Einsatz kommen diese zum Beispiel im rund 40 Kilometer entfernten Belmont, wo das rund 300-köpfige Volkswagen Entwicklungsteam für alle Konzernmarken arbeitet.
Zapletal startet auf seinem Laptop ein Video, um zu demonstrieren, worum es geht. Eingesetzt werden hierbei VR-Brillen und Datenhandschuhe, wie sie etwa auch Gamer auf Spielekonsolen benutzen. Mit diesen Brillen können Designer digitale Prototypen in 3D betrachten und durch die Handschuhe auch damit interagieren. Sie können Formen und Bauteile verändern, verschiedene Materialien im Innenraum ausprobieren und das Ergebnis bei einer virtuellen Testfahrt erleben. Volkswagen nennt diese Technologie „virtuelles Konzeptfahrzeug“. „So können wir viel mehr Variationen in kürzerer Zeit ausprobieren, ohne jedes Mal einen neuen Prototypen bauen zu müssen“, erklärt Zapletal. Die Kosten in der Entwicklung sinken dadurch deutlich. Diese Technologie setzt Volkswagen auch am Standort Wolfsburg ein, etwa in der Entwicklung des neuen Golf 8.
Ebenfalls sehr konkret und praxisnah ist die Arbeit von Shan Lyons. Der Entwickler war an der Umsetzung neuer Funktionen auf der Website von Audi USA beteiligt, etwa im Fahrzeug-Konfigurator. „Diese neuen Features sollen nun auch für die anderen Marken des Konzerns umgesetzt werden, und das deutlich schneller als bisher“, sagt Lyons. Der Schlüssel hierzu ist ein Prozess, bei dem die entwickelte Software sehr schnell entwickelt, getestet, angepasst und optimiert umgesetzt wird. „Wir wollen nicht nur neue Funktionen für den Kunden und einen Mehrwert für unser Geschäft liefern, sondern das auch immer mit einer nachweisbaren Qualität“, erläutert Lyons.
Technologie für konkrete Anwendungen
Die fortschrittlichen Technologien, die Florian Neukart in seinem Jobtitel trägt, werden durch die Arbeit seines Team also immer zu konkreten Anwendungen. Die Suche nach Innovationen wird verknüpft mit konkreten Nutzungsszenarien innerhalb des Konzerns. „Wenn wir etwas finden, das uns helfen könnte, dann kommt erstmal der Anruf hier in den USA und dann der Anruf in Wolfsburg oder anderswo, wo wir versuchen, Stakeholder zu finden“, beschreibt Florian Neukart den Prozess. Dann programmieren die Entwickler in der Regel einen Software-Prototypen. „Wenn wir einen Prototypen haben, gehen wir direkt auf Abteilungen zu, von denen wir denken, dass das interessant sein könnte für die.“ Und so setzen sich viele gute Ideen und Entwicklungen tatsächlich durch – von der US-Westküste bis nach Deutschland, hinein ins Auto und bis zu den Kunden.
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