Wenn Nina Cordes-Klasing in diesen Tagen morgens im Homeoffice ihren Laptop hochfährt, schaut sie als erstes nach, was sie im Posteingang erwartet. „Da waren zuletzt regelmäßig unliebsame Überraschungen dabei“, sagt die 44-Jährige, die bei Volkswagen in der Übersee-Fahrzeuglogistik arbeitet. Gemeinsam mit den Kollegen aus der Planung und dem Transportmanagement koordiniert sie die weltweiten Fahrzeugverschiffungen des Konzerns. Sei es von Südafrika nach Australien, von Deutschland in die USA oder von Mexiko nach Japan.
Im vergangenen Jahr gingen rund 2,7 Millionen Konzern-Fahrzeuge, und damit etwa jedes vierte der insgesamt knapp 11 Millionen ausgelieferten, erst auf Schiffsreise, bevor sie auf die Straßen dieser Welt kamen. Würde man diese Autos – vom Seat Leon über den Volkswagen Tiguan bis zum Porsche Taycan – aneinanderreihen, entspräche das ungefähr der Strecke von einem der Pole zum Äquator. Einen Teil dieser Fahrzeuge bucht Volkswagen auf Linien-Schiffen von Reedereien ein, die alle Arten rollender Ladung transportieren. Da fährt der T6 von Volkswagen Nutzfahrzeuge dann zuweilen Seite an Seite mit Baggern und Traktoren von Europa nach Asien oder Afrika.
Elf eigene Charterschiffe fahren für Volkswagen weltweit
Als einziger Autohersteller setzt der Volkswagen Konzern – und das schon seit den 1960er-Jahren – aber auch eigene Charterschiffe ein. Elf dieser Charterschiffe sind derzeit weltweit für das Unternehmen unterwegs, jedes von ihnen bietet Platz für bis zu 4700 Fahrzeuge der verschiedenen Konzernmarken. „Der Vorteil von eigenen Charterschiffen ist, dass wir die Fahrpläne selbst bestimmen können“, erklärt Cordes-Klasing.
Sie ist nach ihrer Ausbildung zur Speditionskauffrau und anschließendem BWL-Studium in die Konzernlogistik gekommen – und hat dort seit jeher mit der Planung und Steuerung des internationalen Schiffsverkehrs zu tun. „Das ist ein extrem spannendes und vielfältiges Aufgabengebiet.“
Die meisten der Charter-Frachter im Konzern-Einsatz werden auf der Nordamerika-Route eingesetzt, als sogenannte Rundlaufschiffe. Von Emden geht es voll beladen an die US-Ostküste, wo die für den US-Markt bestimmten Fahrzeuge gelöscht werden. Von dort fährt das Schiff weiter nach Mexiko, wo es erst ent- und dann wieder neu beladen wird. Mit einem erneuten Zwischenstopp in den USA geht es dann zurück nach Deutschland. Länge der Tour: etwa 12.000 Seemeilen. Dauer: 45 bis 50 Tage.

Isolation vor der Küste Kanadas
Doch zurück zu den unliebsamen Überraschungen im Posteingang von Nina Cordes-Klasing. Während der Corona-bedingte Produktionsstopp in den deutschen Werken vorhersehbar gewesen sei, hätten sie einige Nachrichten unvorbereitet getroffen, erzählt die zweifache Mutter. Etwa die von dem Charterschiff, das nicht in Kanada einlaufen durfte, weil zwei Besatzungsmitglieder krank waren. Die kanadischen Behörden hätten, ohne überhaupt einen Corona-Test durchgeführt zu haben, angeordnet, dass das Schiff zwei Wochen vor der Küste liegen bleiben muss. Isolation auf hoher See, wenn man so will. „Das hat natürlich den ganzen Fahrplan aus dem Takt gebracht.“
Besonders schwierig wurde die Situation Ende März, als der Hafen Emden seinen Betrieb vorläufig einstellte. Was zur Folge hat, dass die aus Mexiko kommenden Schiffe mit Audi Q5 und Tiguan Long Wheel Base an Bord aktuell nicht gelöscht und wieder beladen werden können. Für Cordes-Klasing heißt das: Krisenmanagement. Aus dem Homeoffice in Wahrenholz im Kreis Gifhorn steht sie in ständigem Austausch mit den Kollegen der Steuerung, den Reedereien und dem Rechtswesen, bereitet Entscheidungsvorlagen für das Management vor. „Wir müssen die Situation gerade von Tag zu Tag neu bewerten und Lösungen suchen“, sagt die Verschiffungsplanerin. Wenn Plan A nicht funktioniert, muss eben Plan B her. Und Plan C nach Möglichkeit schon in der Schublade liegen.
Parallel zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen befasst sich die 44-Jährige schon wieder mit dem Wiederanlauf der Produktion. Schließlich muss dann sichergestellt sein, dass die produzierten Fahrzeuge so schnell wie möglich zum Kunden gelangen. Und der wohnt in vielen Fällen nun einmal am anderen Ende der Welt.
Auf alle Szenarien bestmöglich vorbereitet
Kopfzerbrechen bereitet Cordes-Klasing und ihren Kollegen, dass niemand vorhersagen kann, wann die Produktion in welchem Werk mit welchen Stückzahlen für welche Zielmärkte wieder hochgefahren wird und wann welche Häfen auf dieser Welt wieder angelaufen werden dürfen. „Das ist dieser Tage ein bisschen so, als würde man in die Glaskugel schauen.“ Heißt auch: Niemand weiß mit absoluter Gewissheit, wann wo auf der Welt wie viele Schiffe benötigt werden.
„Wir müssen auf alle Szenarien bestmöglich vorbereitet sein“, sagt Logistikerin Cordes-Klasing. In der Praxis bedeutet das etwa, dass die Charterschiffe auf beiden Seiten des Atlantiks geparkt werden, die eine Hälfte in Europa, die andere vor der Küste Mexikos. „So stellen wir sicher, dass wir schnell vor Ort sind, sobald die Produktion wieder anläuft.“
Zur Verfügung stehen dem Volkswagen Konzern dann in Kürze erstmalig auch zwei Charter-Schiffe, die mit flüssigem Erdgas betrieben werden, dem sogenannten LNG. Die Abkürzung LNG steht im Englischen für liquified natural gas. Es verbrennt im Vergleich zu herkömmlichen Flüssigtreibstoffen wie etwa Schweröl bedeutend sauberer. Bei der Taufe der beiden Schiffe Mitte November war Nina Cordes-Klasing selbst in China vor Ort. Corona war damals auf der Welt noch kein Thema.
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