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„Wir wollen mehr Mobilität bei weniger Verkehr“

Interview mit Prof. Stefan Rettich und Lola Meyer

In einem dreijährigen Projekt haben sich Architekten und Regionalplaner der Universität Kassel mit der Zukunft der ländlichen Mobilität beschäftigt. Prof. Stefan Rettich und Lola Meyer über Ride-Pooling in der Provinz und den Abschied vom Linienbus.

Der klassische Linienbus ist für den Übergang notwendig, hat auf dem Land aber auf lange Sicht keine Zukunft.

Prof. Stefan Rettich Foto: Nils Stoya

Sie sagen: Öffentliche Verkehrsangebote auf dem Land müssen sich grundlegend verändern. Warum?

Rettich: Mit dem autonomen Fahren wird es künftig noch bequemer, von A nach B zu kommen. Das bedeutet: Es wird attraktiver, in abgelegene Orte mit günstigen Immobilienpreisen zu ziehen. Wir sehen darin die Gefahr, dass die Zersiedelung zunimmt und noch mehr Flächen für den Autoverkehr in Anspruch genommen werden. Wir sollten gegensteuern, bevor das autonome Fahren da ist.
Meyer: Es ist unstrittig, dass wir für wirksamen Klimaschutz eine Verkehrswende brauchen. Das Problem auf dem Land: Es gibt praktisch keine Alternative zum eigenen Auto. Einzelne Orte sind gut mit Bus oder Bahn zu erreichen – aber das Gesamtbild ist miserabel. Wir brauchen einen besseren öffentlichen Verkehr als flächendeckende Alternative.

Welches Modell schwebt Ihnen vor?

Meyer: Als Rückgrat sehen wir einen starken Schienenverkehr auf den Hauptlinien. Regionalzüge und Regiotrams können viele Menschen gleichzeitig transportieren. Als Zubringer fungieren in unserem Modell öffentliche Kleinbusse für flexibles Ride-Pooling. Hinzu kommen gut ausgebaute Radwege mit überdachten, abschließbaren Stellplätzen an den Umsteigepunkten.

Ist Ride-Pooling in dünn besiedelten Regionen wirklich eine Option? Auf dem Dorf leben wenige Menschen, mit denen man sich eine Fahrt teilen kann…

Meyer: Es kommt darauf an, die Menschen zu motivieren. Im Raum Offenbach gibt es ein Ride-Sharing-Angebot, für das sich bereits ein Viertel der Bevölkerung angemeldet hat. Die Nachfrage ist so hoch, dass mittlerweile neun Shuttle-Fahrzeuge im Einsatz sind. Ein Schlüssel für den Erfolg war intensive, bürgernahe Kommunikation. (siehe: „Aus der Praxis“)
Rettich: In anderen Orten existieren Bürgerbusse. Das ist auch eine Form von Ride-Pooling-On-Demand. Auf diesen Angeboten kann man aufbauen, sie professionalisieren und digitalisieren. Der klassische Linienbus ist für den Übergang sicher notwendig, hat auf dem Land aber auf lange Sicht keine Zukunft.

Wer soll die neuen Angebote bezahlen?

Meyer: Zu Beginn wird Ride-Pooling auf dem Land nicht kostendeckend sein. Das sind die heutigen Angebote aber auch nicht. Studien zeigen, dass Ride-Pooling unter Umständen günstiger sein könnte als große, schlecht ausgelastete Linienbusse. Langfristig sinken zudem die Personalkosten, wenn die technische Entwicklung autonom fahrende Shuttle-Busse erlaubt.
Rettich: Entscheidend ist die volkswirtschaftliche Betrachtung: Wenn wir den öffentlichen Verkehr nicht stützen, nehmen Autoverkehr und Zersiedelung zu. Die Folgekosten für die Umwelt und die Unterhaltung der Infrastruktur sind hoch. Was man dabei spart, kann der Staat problemlos in den öffentlichen Verkehr investieren.

Lassen sich öffentliches Ride-Pooling und private Mitfahrgelegenheiten kombinieren?

Meyer: Das ist unser Ziel – wir wollen den privaten Verkehr für die Öffentlichkeit erschließen. Zu diesen Zweck haben wir das Modell digitalisierter Mitfahrerbänke entwickelt: Man verabredet sich über eine Online-Plattform und trifft sich dann am vereinbarten Ort zur gemeinsamen Fahrt. Der Mitfahrer zahlt dem Fahrer dafür einen überschaubaren Betrag. So können sich öffentlicher und privater Verkehr gegenseitig stützen.
Rettich: Über die Online-Plattform können private Mitfahrgelegenheiten ebenso vermittelt werden wie professionelles Ride-Sharing oder öffentliches Ride-Pooling-On-Demand. Wir sprechen von Hybridisierung. Wichtig ist, dass die Mobilitätsplattform in öffentlicher Hand ist, damit alle gleichermaßen Zugang haben. Als Betreiber der Plattform kommen die Verkehrsverbände infrage, die auf dem Land schon heute den öffentlichen Verkehr organisieren.

Lola Meyer: „Studien gehen davon aus, dass sich durch Ride-Pooling bis zu 90 Prozent der Fahrzeuge einsparen lassen.“
Foto: privat

Gerade auf dem Land ist der Anteil der Älteren oft hoch. Wie bezieht man Senioren ein, die den Umgang mit Online-Plattformen und Apps nicht gewohnt sind?

Meyer: Es muss ein fließender Übergang von analog zu digital sein: Wer möchte, bucht die Fahrt online. Wer das nicht möchte, kann anrufen und sich anmelden. Bei heutigen Bürgerbussen stellen wir fest, dass sie von Senioren besonders stark genutzt werden. Vielen geht es nicht nur um die Mobilität, sondern auch um ein Schwätzchen mit dem Fahrer. Auch die Mitfahrerbänke, die digitalisiert werden sollen, funktionieren weiterhin zusätzlich analog: Man setzt sich auf die Bank und gibt sein Ziel an.

Sie wollen auch neue Dorfzentren schaffen. Wie soll das aussehen?

Rettich: Jedes Dorf braucht in Zukunft einen Mobilitäts-Hub. Das ist ein Ort zum Umsteigen, aber auch für Begegnungen. Dort könnte es fliegende Händler geben, eine anbieterunabhängige Packstation, eine Tauschbox oder einen Picknicktisch. In größeren Orten könnten weitere Angebote wie Co-Working-Spaces hinzukommen. So entstehen soziale Kristallisationspunkte und Austauschorte. (siehe: „Mobilitäts-Hub und Mitfahrerbank“)

Außerhalb der Großstädte ist das eigene Auto heute kaum wegzudenken. Bleibt das so oder könnte sich das mit selbstfahrenden Shuttles ändern?

Meyer: Menschen wollen komfortable, preisgünstige Mobilität. Solange Autofahren billig und bequem ist, wird man sie nur schwer überzeugen, das Fahrzeug für den Klimaschutz oder aus Gründen der Raumplanung stehen zu lassen. Der Wandel ist also kein Selbstläufer. Aber wenn die Folgen der Erderwärmung im Alltag spürbar werden, könnten sich die Prioritäten schnell ändern.
Rettich: Ein Bürgermeister hat in unseren Workshops gesagt: Wir müssen an die nächste Generation denken. Viele junge Menschen entscheiden sich ganz selbstverständlich für Fahrrad oder E-Bike. Da wächst eine Generation heran, die Mobilität anders denkt.

Unabhängig vom Besitz: E-Autos werden wichtiger – aber bei den Ladesäulen gilt die Provinz als benachteiligt. Sehen Sie eine Lösung?

Rettich: Im Moment sind die Lademöglichkeiten tatsächlich unzureichend. Langfristig erwarte ich keine großen Schwierigkeiten. Gerade auf dem Land leben viele Menschen im Eigenheim, das ja an sich eine private Ladesäule ist. Bei den öffentlichen Mobilitäts-Hubs ist die Ladeinfrastruktur mitgedacht: Man stellt das Auto ab, geht zum Bäcker, hält vielleicht ein Schwätzchen und hat die Ladezeit gut überbrückt.
Meyer: Aus meiner Sicht müssen wir grundsätzlich fragen: Wie viele Autos wollen wir? Wie sollen unsere Städte und ländlichen Räume aussehen? Autogerechte Räume müssen menschengerecht werden. Unabhängig vom Antrieb. Studien gehen davon aus, dass sich durch Ride-Pooling bis zu 90 Prozent der Fahrzeuge einsparen lassen. Das würden wir in unserem demnächst beginnenden Forschungsprojekt gern näher untersuchen. Unser Ziel für den ländlichen Raum: Wir wollen mehr Mobilität bei weniger Verkehr.
Rettich: Der Verzicht auf das eigene Auto ist für viele schwer vorstellbar. Aber man darf nicht vom Status Quo denken. Wenn Sie heute ein Taxi rufen, dann fühlen Sie sich sehr mobil. Ähnlich wäre es bei einem Ride-Pooling-On-Demand-Service, der in 15 oder 30 Minuten vor der Tür steht. Das ist die langfristige Perspektive. Kurzfristig wäre es ein Gewinn, wenn mehr Menschen sagen würden: Ein Auto reicht. Brauchen wir mehr, rufen wir den Shuttle. Oder wir nutzen ein Fahrzeug aus dem Pool der Dorfgemeinschaft.

Modell für eine neue Mobilität: Ein starker Schienenverkehr, Ride-Pooling-On-Demand und gute Radwege sollten aus Sicht der Kasseler Forscher die Zukunft des Verkehrs auf dem Land bestimmen.
Grafik: Universität Kassel / Ersteller: Heimann und Schwantes.

Das Projekt:

Digitalisierte Mobilität, neue soziale Orte, Abschied vom privaten Autobesitz: Das waren Themen des Forschungsprojekts „BauMobil“ der Universität Kassel zur Verkehrswende auf dem Land. Am Beispiel einer Region rund um die nordhessische Kleinstadt Trendelburg haben sich Wissenschaftler aus den Gebieten Architekturtheorie, Städtebau sowie Stadt- und Regionalplanung mit nachhaltigen Mobilitätsoptionen beschäftigt. Unterstützt wurden sie dabei von Praxispartnern, u.a. dem Nordhessischen Verkehrsverbund, dem Zweckverband Raum Kassel und der Stadt Trendelburg. Zeithorizont war das Jahr 2050. Das Projekt wurde vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in der Programmlinie Zukunft Bau gefördert.

Die Interviewpartner:

Lola Meyer ist Lehrbeauftragte im Fachgebiet „Architekturtheorie und Entwerfen“ der Universität Kassel. Sie lebt zeitweise in der Prignitz und kommt ohne eigenes Auto aus. Bei Bedarf leiht sie ein Fahrzeug einer örtlichen Werkstatt. 

Stefan Rettich ist Professor für Städtebau an der Universität Kassel. Er forscht vor allem zu Raum und Politik. Rettich lebt in Hamburg. Er hat kein Auto und legt die meisten Kilometer mit der Bahn und dem Rad zurück.  

  • Aus der Praxis

    Unter dem Namen „Hopper“ hat die Kreisverkehrsgesellschaft Offenbach in Hessen eine moderne Variante des Anrufsammeltaxis etabliert. In drei Kommunen zwischen 9.000 und 21.000 Einwohnern können die Nutzer täglich von 5.30 Uhr bis 1.30 Uhr ihre Tour per App buchen. Die Fahrzeuge bedienen rund 1.000 Haltepunkte, darunter bestehende physische Haltestellen sowie weitere öffentliche Gebäude wie Arztzentren oder Rathäuser.  

  • Mobilitäts-Hub und Mitfahrerbank

    Das Konzept der Kasseler Forscher sieht sogenannte Mobilitäts-Hubs in jedem Ort vor. Diese Plätze sollen Gelegenheit für soziale Begegnungen bieten und zugleich der Daseinsvorsorge dienen. Ausstattung und Funktionen unterscheiden sich nach Größe und Lage des Orts. So verfügt die mittlere Variante – der Midi-Hub – über eine Paketstation, Tausch-Boxen für Bücher oder Obst sowie einen Kiosk. Er wird von Bussen angefahren und bietet eine digitalisierte Mitfahrerbank. So nennen die Wissenschaftler flexible Treffpunkte für Mitfahrgelegenheiten.  

Inter/view

In der Reihe „Inter/view“ sprechen wir mit unabhängigen Köpfen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik über die Mobilität der Zukunft. Im offenen Dialog diskutieren wir, wo die Schwierigkeiten liegen, auf welche Lösungen wir uns freuen können und wie sich der Verkehr klimaneutral organisieren lässt.

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