Ein Gespräch mit der Autorin Mirna Funk über Erinnerungskultur und Zukunft
Volkswagen Heritage hat mit der Buchautorin und Journalistin Mirna Funk über die damit verbundenen Erwartungen, Anforderungen aber auch Chancen und Wünsche gesprochen. Mirna Funk ist mit jüdischer Familie in Ost-Berlin aufgewachsen und widmet heute einen großen Teil ihrer Arbeiten den Themen jüdisches Leben und Erinnerung. Dabei ist sie selbst eine präsente Vertreterin modernen jüdischen Lebens. Im Interview spricht sie vom Dreiklang der Erinnerung, der für die Zukunft so wichtig ist und darüber, was wir von jüdischer Kultur lernen können:
Frau Funk, Sie sind Jüdin und in Deutschland aufgewachsen, wie haben Sie das Thema Erinnerung in ihrer Kindheit und Jugend erlebt?
Ich bin in Ost-Berlin aufgewachsen, in einem damals ganz normalen deutschen Setting. Ich bin auf eine ganz normale deutsche Schule gegangen, in einen ganz normalen deutschen Kindergarten. Das ist ein bisschen anders als das im Normalfall vielleicht für Jüdinnen und Juden ist West-Deutschland war. Die sind oft in der jüdischen Community aufgewachsen. In der DDR war Judentum nicht wirklich relevant, da gab es andere gesellschaftliche Themen, die im Vordergrund standen.
Hatten Sie als Jugendliche dennoch einen persönlichen Zugang mit Erinnerungskultur
Ich habe eine jüdische und eine nicht-jüdische Familie. In der jüdischen Familie wurde selbstverständlich viel über die Verfolgung gesprochen. Darüber, wie Teile unserer Familie überlebt haben. Es gibt und gab dort viele Geschichten, mit denen ich groß geworden bin. Auf der anderen Seite die „normale“ deutsche Seite, was ich durchaus als eine Art Spannungsfeld erlebt habe.
Wie haben Sie diese kulturellen Unterschiede erlebt?
Im Judentum spielt Erinnerung eine riesige Rolle. Darauf basiert ganz viel, jeder einzelne Feiertag ist Erinnerung an etwas, was vor tausenden Jahren passiert ist. Das bedeutet, dieses Mindset von „jetzt muss doch mal gut sein“ oder „warum müssen wir uns überhaupt erinnern“, das ist aus jüdischer Sicht ganz merkwürdig. Im Judentum gibt es kein Problem mit Erinnerung. Wir wissen gar nicht so richtig, warum man überhaupt vergessen soll, weil dies in alle Traditionen eingewebt ist. Zum Beispiel wird während der Hochzeitszeremonie ein Glas zertreten. Dieser Brauch dient dazu, an die Zerstörung des zweiten Tempels vor 2.000 Jahren zu erinnern. Ein Sinnbild dafür, dass es immer Scherben im Leben gibt, dass es immer Brüche im Leben, im persönlichen Leben aber auch im Leben des jüdischen Volkes gab und gibt.
Welche Rolle spielt Erinnerungskultur heute in ihrem Leben?
Tatsächlich ist es mein Beruf geworden. Ich habe ehrlich gesagt nicht darauf hin gearbeitet, dass es mein Beruf wird, aber es ist dann einfach so geschehen. Und jetzt ist es so, dass ich mich professionell damit beschäftige und dazu Texte schreibe. Ich meine, die Erinnerungskultur ist ja nicht abgeschlossen und vieles noch immer nicht ausreichend bekannt. Zum Beispiel dass es vor dem Dritten Reich eine 2.000 Jahre alte Verfolgungsgeschichte gab und dass die Ideen der Nationalsozialisten auf sehr fruchtbaren Boden gefallen sind.
Was verändert sich aus Ihrer Sicht derzeit auf diesem Gebiet?
Da gibt es gerade viel zu beobachten. Wie hat sich das gesellschaftliche Gedächtnis in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt, welche Veränderungen hat der Mauerfall gebracht, die Globalisierung, das Ende des kalten Krieges? Was bedeutet Erinnerungskultur im Zuge der aktuellen Post-Colonial-Studies? Alles ist in einer ständigen Veränderung, auch die Perspektive auf diese 12 Jahre Holocaust. Zeitzeugen sterben, das bringt wieder neue Fragen mit sich und dementsprechend ist das ein hoch aktuelles Thema.
Welche dieser Themen sind für Sie und Ihre Arbeit am bedeutendsten?
Das Wichtigste wäre tatsächlich zu verstehen, dass Geschichte eben nicht mit den Zeitzeugen endet. Dies ist so verankert in den aktuellen Debatten und der Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur: Was machen wir jetzt, ist dann der Holocaust weg? Dass es so eine zentrale Perspektive auf Zeitzeugen gibt, liegt daran, dass kein Bewusstsein dafür existiert, dass die Traumatisierungen auch an die zweite und die dritte Generation weitergegeben wurden. Ich würde ohne das Ereignis des Holocaust jetzt hier nicht sitzen, meine Tochter würde den Namen nicht tragen, den sie heute trägt. Da ist wirklich sehr viel, womit sich nicht auseinandergesetzt wird. Ein Umdenken wäre so wichtig, dann würde es nicht dieses Gefühl geben im Sinne von „Wie können wir den Holocaust weiter am Leben halten, wenn doch alle tot sind?“. Wir sind nicht tot! Und auch die Auswirkungen sind nicht weg.
Was muss sich diesbezüglich gesellschaftlich ändern?
Erst einmal geht es um Verständnis, welches es in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen gilt. Dann würde man vielleicht auch ein bisschen empathischer mit der zweiten und dritten Generation umgehen und wahrnehmen, dass es uns überhaupt gibt. Ich arbeite viel mit Kindern und Jugendlichen und mache mit denen Workshops. Und wenn man fragt, wie viele Juden es eigentlich noch in Deutschland gibt, dann gibt es immer nur zwei Fantasien: Keine oder 80 Millionen. Das ist wie ein Gespenst. Diese Vorstellung davon, dass es eigentlich keine deutschen Juden mehr in Deutschland gibt, weil die alle schon tot sind.
Aktuell ist das Problem der Holocaust-Relativierung wieder sehr präsent, z.B. durch Corona-Leugner, die sich als Nachfolger der verfolgten Juden betrachten.
Holocaust-Relativierung findet ja ständig statt. Ob das jetzt Klimaschützer sind, die sagen, Tiere leben in Konzentrationslagern, oder ob behauptet wird, dass die europäische Flüchtlingspolitik ein weiterer Holocaust sei. Das sehen wir auch in Amerika und in anderen europäischen Ländern, das ist nicht Deutschland-spezifisch. Viel bedrohlicher als Querdenker finde ich, was im wissenschaftlichen Betrieb seit einiger Zeit passiert. Historiker, wie Dirk Moses oder Per Leo, die meinen, wenn wir weiter über den Holocaust sprechen, dann gehen all die anderen Genozide unter. Niemand, kein jüdischer Historiker oder Holocaust-Forscher würde jemals sagen, dass der Holocaust das allerwichtigste ist und man über andere Genozide nicht sprechen dürfe. Da findet etwas statt, das selbstverständlich Holocaust-Relativierung ist und vor allem der eigenen Schuld-Abwehr dienen soll.
Also mangelt es vor allem an Bildung?
Ich glaube es fehlt eine schulische Auseinandersetzung mit der Entwicklung vom Anti-Judaismus zum Antisemitismus und dann darüber hinausgehend auch zum Anti-Zionismus. Wir haben es hier sozusagen mit drei Entwicklungsstufen des Judenhasses zu tun und diese Entwicklungsstufen müssen gelehrt werden, um überhaupt zu verstehen, dass Antisemitismus nichts ist, was mit Hitler gekommen und mit Hitler gegangen ist. Dieses Narrativ des von Hitler verführten deutschen Volkes muss man erst einmal aus den Köpfen herausbekommen, um die eigentliche Erinnerungsarbeit auszurollen. Die große Frage ist: Hat Erinnerungsarbeit in den letzten 80 Jahren überhaupt stattgefunden? Weniger auf dem politischen Parkett, ich meine wirklich tief im Kern der deutschen Gesellschaft.
Was muss sich bei der Erinnerungsarbeit ändern, damit sie tatsächlich in der gesellschaftlichen Mitte ankommt?
In Deutschland ist Erinnern immer irgendwie schwer und schwierig und deswegen erreicht man viele Menschen nicht. Wer macht da schon freiwillig mit? Ich glaube man kann Erinnerungskultur reflektiert durchführen und sie gleichzeitig aber ins Leben und in etwas Positives einbinden. Schaut doch mal wie die Juden die Erinnerung leben, was sich die Erinnerungskultur-Spezialisten der letzten 5.000 Jahre da so ausgedacht haben. Wir haben das im letzten Jahr ja ein Stück weit zelebriert: 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Da wurde der Fokus sehr stark auf das Jetzt gelegt und das ist richtig. Ich glaube, es wäre wichtig bestimmte Erinnerungsveranstaltungen mit jüdischer Kultur zu verbinden. Oder hohe Feiertage auch mal gemeinsam zu feiern. Die Menschen wissen noch immer viel zu wenig über das Judentum. Der Jude als Opfer des Holocaust, das haben alle schon mal gesehen. Aber der Jude am Tisch sitzend und lachend, der findet ja gar nicht statt. In der amerikanischen Gesellschaft ist man da weiter, da ist es total normal, dass in Hollywood-Filmen irgendeine Familie Hanukkah feiert. Aber aus dem deutschen Bewusstsein, aus der deutschen Öffentlichkeit ist jüdische Kultur weitgehend eliminiert.
Wie sollten Unternehmen hierzu einen Beitrag leisten?
Vielleicht liegt die Verantwortung auch bei solchen großen Konzernen wie Volkswagen zu schauen, wie wir diese jüdische Kultur, von der man ja immer behauptet, dass sie jetzt weg ist, fördern und ins Bewusstsein bringen können. Wo ist denn der große Musik- und Literaturpreis von Volkswagen für jüdische Musiker und Schriftsteller heute? Wir können nicht die ganze Zeit etwas bejammern und betrauern, und uns überhaupt nicht damit beschäftigen wie wir denn das, was übrig geblieben ist, eigentlich fördern. Es kann nicht damit enden, dass man Zeitzeugen interviewt und die künftig auch noch als Hologramm projiziert, nur damit man weiterhin bei 1945 bleiben kann. Es gibt auch die zweite und die dritte Generation, meine Tochter ist die vierte. Wir leben hier und jetzt, und wir haben mit den Auswirkungen des Holocaust noch heute zu tun. Wenn Unternehmen eine Verantwortung für die Vergangenheit haben, dann haben sie auch eine Verantwortung für die Gegenwart und eine Verantwortung für die Zukunft. Erinnerungskultur kann nicht nur im Gestern stattfinden, sondern sie muss im Jetzt und im Morgen gleichzeitig gelebt werden.
Frau Funk, wir danken Ihnen für dieses interessante Gespräch.